Gudrun Bott, Leiterin Schloss Ringenberg / Derik-Beagert Gesellschaft (Hamminkeln, Deutschland)
Im Blick zurück auf die Kindheit mag mit den Erinnerungen an ein vergangenes Lebensgefühl auch die an eine Zeit verbunden sein, in der Vertrauen und Bewunderung bedingungslos, Abhängigkeit und Geborgenheit untrennbar waren. Möglicherweise wurzelt hier unser späteres Bestreben, mit polarisierenden Wertungen komplexe menschliche Beziehungsgeflechte zu klären - auf der Suche nach Orientierungs- und Handlungsmaßstäben. Spiegeln doch kollektive Erzählungen vom Märchen bis zur TV-Soap solch einschlägige Sehnsucht nach griffigen Mustern in ihren Geschichten von Helden und Bösewichten.
Als männliche Prototypen scheinen die Ärzte, Soldaten, Piloten und Großväter in Marijn Akkermans frühen großformatigen Zeichnungen (2000 – 2003) einem Kosmos viriler Fabelwesen entsprungen. Überlebensgroß, selbstgewiss, dominant demonstrieren sie die Insignien ihrer Arbeits- und Machtsphäre und besetzen mit ihrer physischen Präsenz das Bildzentrum. Die proportional kleineren, kindlichen Figuren spielen den Part des augenscheinlich Arglos-Unschuldigen. Sind damit die Rollen in den sorgfältig gebauten Szenen vorgeblich klar verteilt, so lassen bühnenhafte Verdichtung und kaum entwirrbare körperliche Verschränkung der Figuren ihre mehrdeutige Anlage bereits ahnen. Die auf den ersten Blick statischen Arrangements entfalten subtile unterschwellige Energien und widersprüchliche emotionale Gemengelagen, in denen sich die Grenzen zwischen Opfern und Tätern, Starken und Schwachen zunehmend überlagern und auflösen. Haben die meist aktiven, kleineren Figuren die Fäden in der Hand oder droht auch ihnen das rätselhafte Geschehen unmerklich zu entgleiten?
Die Szenen der Serie „The Teddybear Conventions“ (2004), in denen sich wie in beschaulichen Kinderbuchillustrationen Menschen und Stoffbären begegnen, sind durchdrungen von Gewalt. Den Plüschriesen quillt die Schaumstofffüllung aus abgerissenen Armen und Beinen, ihre fehlenden Glasaugen sind anderen Figuren ins Gesicht genäht wie beliebig transplantierbare Körperteile. Das offenbar brutale Geschehen mit verrenkten Gliedmaßen und verletzten Körpern lässt jedoch die Betroffenen selbst merkwürdig unbeteiligt, zumindest zeigen ihre Gesichtszüge nur freundliche Gelassenheit und spielerischen Eifer. Als wüssten sie nicht, was sie tun und wie ihnen geschieht, bleiben die Figuren befangen in einem spielerischen Handlungsmodus, so dass die explosiven Situationen unterwandert werden von einer träumerischen Leichtigkeit. Komplizierte Abhängigkeitsverhältnisse, schwimmende Identitäten und ungeklärte Rollenverständnisse schaffen ein surreales Geflecht der Körper und Emotionen, deren Widersprüche unauflösbar und mehrschichtig bleiben. In Analogie zu den körperlichen Verquickungen kreuzen sich hier paradoxe Deutungsebenen von Traum und Trauma, Spiel und Drama, Passion und Pose.
In den aktuellen Arbeiten tritt das Szenische zurück zugunsten eines porträthaften Auftritts der Figuren, insofern sie in klassischer Porträthaltung den Betrachter aus dem Bild heraus unmittelbar anschauen. Wie ferne Erinnerungen schimmern Anklänge an die Bildnismalerei des frühen 19. Jahrhunderts durch, als das angehende Bürgertum sich über eine neue Innerlichkeit und Intimität der familiären Beziehungen zu definieren begann. Fand nicht hier bereits unter der Hand mit dem Versprechen auf Geborgenheit zwangsläufig ein Verlust an persönlicher Autonomie und Unversehrtheit statt, der einer in vormals fest gefügten Rollen ungekannten Abhängigkeit Raum verschaffte? Wenn in Marijn Akkermans’ Zeichnungen monströse, metallisch wirkende Frauenhände ein Kind umfangen und herab fallendes Haar Bewegungsspielräume käfighaft einengt, verschwimmen die Grenzen zwischen Bindung und Fessel, zwischen Bergen und Besitzergreifen. Wie anders lässt sich solcher Abhängigkeit entkommen als mit undurchdringlichen Strategien aus den Bezirken des Abgründigen, die unerkannt bestenfalls als blinder Fleck aufscheinen? In der Betrachtung kehrt sich der Aufbau der Figuren aus lasierenden Schichten um und erzeugt den Eindruck, als habe der Künstler sie gehäutet in seiner drängenden Suche nach dem unter der Oberfläche Verborgenen. Um am Ende – der Verletzung seiner eigenen Geschöpfe gewärtig – an der vom weißen Papier markierten Grenze innezuhalten und dem Echo seiner mentalen Bilder zu lauschen, ohne ihrer habhaft zu werden.
Dem fragmentarischen Verlauf des narrativen Fadens auf der Ebene der Erzählstruktur entsprechen in Marijn Akkermans Arbeiten die technischen Brüche in der zeichnerischen Umsetzung. Unvermittelt grenzen zarte, transparente Buntstiftschraffuren und wolkig-leichte Farbtupfer an grob konturierte, monochrome Acrylflächen. Neben diesen silhouettenhaften Partien heben Rinnsale aus schwarzer Tusche die uneingeschränkte Wirkung illusionistischer Körperlichkeit immer wieder auf und weisen ihr einen vom Künstler festgelegten Platz im Bildgeschehen zu. Präzise Sezierschnitte öffnen die Papierfläche für eingeschobene cut-outs und erzeugen – nicht nur als technische Setzungen - ein unmittelbares Gefühl von Verletzung und Intimität.
Das ambivalente Spiel von Nähe und Distanz zwischen den Bildfiguren überträgt sich auch auf das Verhältnis zwischen Bild und Betrachter. Dem psychologischen Sog der Szenen entgegen steht neben der Fragmentierung der Körper zudem ihre Ortlosigkeit, schweben sie doch ohne wirkliche Bodenhaftung auf dem neutralen, weißen Papier und bleiben so ohne räumlichen Kontext. Zusätzliche Distanz entsteht mit dem untrüglichen Gefühl, die Gesichter der Figuren zu kennen, ohne sie identifizieren zu können. Ihre Herkunft aus dem vertrauten Repertoir populärer Illusionsmaschinerien und kulturhistorischer Bildbestände macht sie zu austauschbaren Projektionsflächen, deren pathetischen Tenor der Künstler ironisch entlarvt. Dass sie dem Betrachter bei aller Ambivalenz als Folie dienen für hintergründige und untergründige Erinnerungen, Sehnsüchte, Gefühle, wirft die Frage auf nach der medialen Steuerung des vermeintlich Intimen. Bleiben uns am Ende auch für das Authentische, radikal Subjektive nur die Ausdruckweisen der theatralen Pose, wie sie Massenmedien und Bildkonventionen vor Augen führen? Oder wollen wir uns vielleicht die Gefühlschübe des Sentimentalen gar nicht nehmen lassen und weiterhin – ungebremst und wider besseres Wissen – lustvoll navigieren in den Gefilden des Bedrohlichen, Fiktionalen, Trivialen?
Gleichzeitig nah und fern - zu nah um unvertraut, zu fern um wahr zu sein - geht von Marijn Akkermans Bildern eine emotionale Ergriffenheit aus, die länger als die eigentliche Betrachtung dauert. Denn was zunächst als verstörende Irritation wahrgenommen wurde, hallt als das Echo verloren geglaubter, kostbarer Gefühle nach. Dabei handelt es sich um ein ambivalentes Erlebnis, das aus der kindlichen Verunsicherung auf dem Weg spielerischer Selbstfindung resultiert, die erst mit der rationalen Vernunft des Erwachsenen als unwiederbringlicher Verlust erscheint. Ganz so, wie das Märchen des Zauberers von Oz für die kleine Dorothy zweifelhaft mit der ersehnten Rückkehr in die Erwachsenenwelt endet:
"[....]
Aunt Em: Wake up, honey.
Dorothy: Oh, Auntie Em, it's you!
Aunt Em: There, there, lie quiet now. You just had a bad dream.
Dorothy: But it wasn't a dream. This was a real, truly live place.
And I remember that some of it wasn't very nice - but most of it was beautiful.
But just the same, all I kept saying to everybody was, 'I want to go home!'
And they sent me home.
(All laugh)
Doesn't anybody believe me?
Uncle Henry: Of course we believe you, Dorothy.
Dorothy: […] Oh, Auntie Em, there's no place like home!"
Taken from "Back Then, The World Was Bigger", monograph Marijn Akkermans, published by galerie Gabriel Rolt, Amsterdam, 2008